1-Vertrauen: 16.400 Schritte
Dick eingepackt, den selbstgestrickten Schal dicht um den Hals gewickelt, mache ich mich auf den Weg. Ich passiere den Durchgang zwischen den Wohnblöcken und lande an den stillgelegten Bahngleisen direkt am Waldrand. Vorsichtig steige ich über die Schienen und schlendere den Waldweg entlang zur ersten Brücke. Der Bach unter der Brücke fließt ruhig und das Sonnenlicht glitzert auf der Wasseroberfläche. Ein junges Paar mit einem Kinderwagen schießt Fotos und lässt sich von mir nicht stören.
Es gibt keine bestimmte Route, die ich mir vorgenommen haben, ich lasse mich treiben. Folge den Wegen, die zwischen den Bäumen die Sonne einfangen und mir freundlicher erscheinen als die anderen. Mal biege ich links und dann wieder rechts ab. Ein Schritt folgt dem anderen. Mal weiche ich dem schlammigen Untergrund aus oder umschiffe eine Eisplatte, die sich durch die Kälte in einer Pfütze gebildet hat. Meine Kopfhörer liegen zuhause, kein Podcast, kein Hörbuch, keine Musik – nur die Geräusche meiner knirschenden Schritte auf dem gefrorenen Waldweg begleiten mich. In der Ferne, hier und da ein verirrter Silvesterkracher. Ich orientiere mich an den Schildern der ausgeschriebenen Walking-Runden. Eigentlich kann ich mich nicht verlaufen.
Ich lande in Siebenbrunn-Unterdorf, lese die Schautafel und erfahre etwas, dass ich vorher nicht wusste. Das Unterdorf am Siebenbrunnenbach, von dem heute nichts mehr übrig ist, bestand aus mehreren Wohngebäuden und einer Gaststätte „Zu den sieben Brunnen“. Von 1930-1950 lebten dort bis zu 230 Menschen, die als Fabrikarbeiter in der nahgelegenen Weberei in Augsburg, tätig waren.
Sofort erfasst mich der Gedanke, ob diese Information nicht eine Geschichte wert wäre. Das passiert mir in so vielen Momenten. Eine Idee jagt die andere und ich muss mich regelrecht mit Gewalt von neuen Einfällen verabschieden, um meine bestehenden Schreibprojekte nicht zu gefährden. Plot-Bunnys, nennen wir das unter Schreiberlingen. Funkelnde Ideen und Bilder, die uns heimsuchen und daraus Geschichten entstehen sollen. Manche davon, die die am hellsten funkeln, halten wir in unserer Ideen-Datei fest, andere lassen wir vorbeiziehen. In meinem Fall warten schon mindestens vier oder sechs weitere Geschichten darauf, dass ich ihnen einen Platz einräume und sie auf Papier gebracht werden. Das ist das Wunder, dass mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Die Ideen gehen niemals aus. Ist das bei allen kreativen Menschen so? Wird mich dieser Ideen-Reichtum mein ganzes Leben begleiten? Ich vertraue darauf!
So wie ich der nächsten Abzweigung vertraue, dass sie mich auf den richtigen Weg führt, denn ich habe schon lange keine Orientierung mehr. Der Stand der Sonne verrät mir, dass ich getrost weiterlaufen kann. Ein alter Mann, als Gehhilfen zwei dicke Äste, schleicht an mir vorbei. Sein grauer Bart passt zu den grauen Zotteln, die unten aus seiner Mütze spitzeln. Er trägt die Kleidung eines Landstreichers. Eine Cordhose mit ausgebeutelten Knien, eine viel zu große Strickweste, darüber einen Anorak in Tarnfarbe. Beim Vorbeigehen spüre ich einen kalten Windhauch, der durch das Unterholz weht. Ich zupfe mein Stirnband zurecht und freue mich auf die kommenden Meter, die der Sonne wieder Durchschlupf gewähren. Sie scheint mir auf den Rücken. Ich laufe weiter und mein dunkler, langer Mantel heizt sich auf, so dass mir ganz schön warm wird. Doch ich vermeide es, die Jacke zu öffnen, ich bin nach langem mal wieder gesund und das soll auch so bleiben.
Dann entdecke ich an der nächsten Kreuzung ein Schild „Hochablass“. Bin ich schon so weit gelaufen? Bis dahin, schaffe ich es auch noch. Zielstrebig marschiere ich auf dem Waldweg, neben dem Lech, auf das Wehr zu. Ich sehe schon, wie viele Leute den Feiertag nutzen, um sich dort zu tummeln. Obwohl ich die Menschenmasse vermeiden wollte, tauche ich in die bunte Mischung aus Jung und Alt ein. Pärchen, die Hand in Hand über die Brücke laufen und nach unten auf den Wasserfall staunen. Jogger, die sich im Slalom an den Spaziergängern vorbeischlängeln. Hunde, die, die Nase in die Luft recken, um all die interessanten Düfte in sich aufzusaugen. Tobende Kinder, die ihre Eltern, um ein Eis anbetteln. Eltern, die ihren Kindern eine Freude bereiten wollen und schnurstracks auf den Kiosk zusteuern. Über der Brücke zieht mich die Kiesbank am Lech in ihren Bann. Ich gehe hinunter ans Wasser, setzte mich auf einen Stein, der geradezu auf mich gewartet hat, und lausche dem Wasser. Dem Sturzfall der Wassermassen, die sich über dem Wehr hinabstürzen und dem ruhigen, dahinfließenden Fluss, der desto weiter sich das Wehr entfernt, umso leiser zu werden scheint. Während ich dasitze, kommt es mir vor, als fließen die beiden Wassergeräusche wie eine Melodie ineinander. Mir kommt der Übergang zweiter Musikstücke in den Sinn, denen ein DJ an genau der richtigen Stelle, das ineinanderfließen ermöglicht. Ein junger Mann sucht nach den richtigen Steinen und lässt sie über die Wasseroberfläche tanzen. Kurz denke ich darüber nach, dort noch einen Kaffee zu trinken, doch der Trubel ist zu groß. Ich bin dankbar allein hier zu sein. Das gibt mir den Raum und die Freiheit, mich ganz meinen Gedanken und den vielen Eindrücken zu widmen. Manche der Eindrücke packe ich in Worte, andere wiederum lasse ich an mir vorbeifließen. An diesem Platz entscheide ich mich dafür, diesen Spaziergang dem Motto Vertauen zu widmen. Ich darf dem Fluss des Lebens vertrauen. Ich darf mir vertrauen. Ich darf dem Universum vertrauen, das mir die Dinge schickt, die für mich bestimmt sind.
So wie das mit dem Schreiben vor einigen Jahren geschehen ist. Niemals vorher hätte ich daran gedacht, irgendwann ein ganzes Buch niederzuschreiben. Mittlerweile sitze ich an meinem siebten Manuskript. Auch wenn ich mir bisher mit der Veröffentlichung viel Zeit gelassen habe, bleibe ich im Vertrauen. 2025 ist es so weit, dass ich den Weg eines Buches und der einer Autorin zu Ende gehen werde. Ich werde veröffentlichen.
Nachdem ich den Heimweg angetreten bin, begegnen mir Spaziergänger. Ein Mann und eine Frau, unabhängig voneinander, wünschen mir aus dem Nichts; ein gutes, neues Jahr! Ich freue mich und gebe die Wünsche, aus tiefstem Herzen zurück. Auf dem Heimweg entdecke ich wunderschöne Stellen im Wald, die ich als Bilder auf meinem Handy festhalte. Ein Baumstumpf, der mich mit seinem kreisförmigen Mooswuchs auf der Schnittfläche an den Kreislauf des Lebens erinnert. Ein abgerissener Stamm, dessen Bruchstelle mit vielen kleinen, unterschiedlich hohen Holzspitzen, die in die Höhe ragen, einer verlassenen Turm-Stadt gleicht, die es ausschließlich in meinen Gedanken zu geben scheint. Ein weihnachtlich, geschmückter Strauch, nebenan eine Krippe und vom Ast des Strauches baumelt ein silbernes Herz, welches mich daran erinnert, dass zu Hause jemand auf mich wartet. Das ist Glück, das ist Vertrauen – in das Leben und das neue Jahr!